Die ISS vor der Sonne
Ein Beobachtungsbericht von Jens Müller
Bisher war mir die Internationale Raumstation ISS eigentlich nur als störend aufgefallen. Ich kannte zwar von “früher” bereits helle Satelliten, wie Echo II, hatte aber nie den Drang verspürt, einen dieser Flugkörper absichtlich zu fotografien. Doch irgendwie fehlte die ISS in meiner Sammlung. Es war so etwas wie die letzte Herausforderung.
Vor etwa 1 Jahr hatte ich in der astronomischen Vorschau von Arnold Barmettler (Calsky) nach den Planetenephemeriden geschaut. Dabei stellte ich fest, dass er ja auch eine Vorausschau über die Sichtbarkeit und die Bedeckungen durch die ISS anbietet. Mein Resümee war jedoch: Ohne grössere Wanderschaft ist da nichts zu erwarten. Also verschwand die ISS wieder aus meinem Bewusstsein. Ende Juli hatte ich mir ein neues Smartphone gekauft und mit neuen Apps ausgestattet. Darunter war die ISS-HD-Live-App, die u. a. auch Angaben über die Sichtbarkeit macht. Bald empfand ich die dauernde Erinnerung an die Überflüge durch optische und akustische Signale als recht lästig. Aber es führte dann doch dazu, dass ich Ende Juli während der langen Schönwetterperiode in Ermangelung anderer astronomischer Attraktionen nach sorgfältiger Vorbereitung einen ISS-Überflug mit der stehenden Systemkamera + Stativ aufnahm und daraus sowohl Komposit als auch Animation zusammenbaute. Dann verlor das Thema ISS-Fotografie wieder seine Aktualität, obwohl mir die Raumstation an lauen Sommerabenden beim Bier auf der Stallgasse immer wieder begegnete und mir grossen Respekt von (echten) Laien einbrachte, denen ich sagen konnte: In 5 Sekunden kommt die ISS über dem Baumwipfel rechts neben der Sternwarte raus und zieht genau durch den Zenit. Und das tat sie dann auch wirklich. Die App ist ausgesprochen präzise, macht allerdings keine Aussagen über Vorbeiflüge vor Sonne oder Mond.
Als ich dann wieder einmal bei Calsky nachschaute, was sich astronomisch so tut, stolperte ich über meine alte ISS-Einstellung, die mir mit einigen Tagen Vorlauf einen Durchgang vor der Sonne vorhersagte, der von meinem Standort aus bei gutem Wetter sichtbar sein sollte. Allerdings kam zu der Einschränkung “keine Wolken” noch dazu, dass dieses Ereignis gerade mal 0,8 Sekunden dauerte. Ich habe mir aber gedacht: Jetzt oder nie! Mehr als schiefgehen konnte es ja nicht, selbst wenn es nur ein Experiment ohne Bild-Ergebnis bleiben würde. Ich hatte ja noch einige Tage Zeit, die ich insbesondere damit verbrachte, Wettervorhersagen und “Kochrezepte” zu studieren. Dabei wurde mir aber immer klarer, dass ich trotz sorgfältiger Vorbereitung verdammt viel Glück brauchen würde, um den ISS-Durchgang vor der Sonne scharf aufs Bild zu bekommen.
Der Tag der Wahrheit kam. Am 9. August um 16:08:35 sollte der Vorübergang stattfinden. Ein paar Tage vorher war es noch 16:08:38, und 2 Stunden vor dem Ereignis gab es bei Calsky gar keine Angaben mehr. Was sollte ich davon halten? Ich wollte es trotzdem probieren. Der Wetterbericht sagte ausgerechnet für den Nachmittag einen Wetterumschwung im Unwetterformat voraus. Gegen 15:00 war davon aber noch nichts zu merken, außer dass der Wind aufgefrischt hatte. Dazu war es “wechselnd bewölkt”. In kurzer Zeit hatte ich das Sternwartendach geöffnet, das Fernrohr abgedeckt und aus dem Schlafmodus geweckt. Den Beobachtungshund hatte ich an der Fallrohrhalterung der Dachrinne draussen an der Sternwarte angebunden. Er war mir einige Tage zuvor (ohne diese Sicherungsmaßnahme) noch durch die offenstehende Tür in die Dunkelheit entwichen.
Als ich die Systemkamera, die ich wegen ihres grossen Gesichtsfeldes für die anstehende Aufgabe ausgesucht hatte, an dem Lepus-Brennnweitenreduzierer anbringen wollte, musste ich feststellen: Ich hatte die falsche Kamera mitgebracht. Also zurück ins Haus und ausgetauscht. Da ist es gut, wenn man noch einen Zeitpuffer hat! Kaum hatte ich die richtige Kamera am Fernrohr, bemerkte ich, dass ein notwendiger Zwischenring fehlte. Auch der war bald geholt. Dann habe ich den Baaderschen Sonnenfilter auf die Teleskopöffnung gesetzt, die Sonne zentriert und im Display scharfgestellt. Erwartungsgemäss war die Sonnenoberfläche leer: keinerlei Anzeichen von Sonnenflecken. Immer wieder zogen dagegegen Wolken durch das Gesichtsfeld, sodass manchmal gar nichts zu sehen war. Das Live-View-Bild sah so flau aus, dass genaues Scharfstellen bei der Umgebungshelligkeit unmöglich war. Da erinnerte ich mich, dass ich irgendwo im Haus noch ein schwarzes Tuch haben musste, dass ich einmal für die Anfertigung von Dunkelbildern benutzt hatte. Das hängte ich mir jetzt über den Kopf. Und es funktionierte!
Langsam, aber sicher rückte das Ereignis näher. Es war wie bei einem Raketenstart. Meine Aufgabe war es, bis kurz vor dem Ereignis die Sonne, die trotz Reducer nicht ganz ins Gesichtsfeld passte, mit der Motornachführung im Zentrum zu halten. Würde die ISS eigentlich überhaupt gerade diesen Ausschnitt kreuzen?
Punkt 16:35:00 (Stimmte die Zeit überhaupt?) drückte ich den Fernauslöser, der bei Einstellung “M” die Serienbilder mit einer Belichtung von 1/3200 sec und ISO400 eine Minute lang auf den Weg brachte. Damit das Abspeichern schneller ging, hatte ich mich auf das jpg-Format beschränkt und die SD-Karte formatiert. Es hörte sich an wie bei einem Maschinengewehr. Doch dann wurden die Abstände immer grösser, sodass ich mein Projekt davonschwimmen sah. Ging mir am Ende die ISS dadurch noch “durch die Lappen”? Auf dem Display hatte ich auch nichts Hoffnungsvolles gesehen.
“Gefasst” nahm ich den Chip heraus und übertrug im Haus die Bilder auf den Rechner. Wider Erwarten war dann doch auf einem von 200 Bildern etwas, was da sonst nicht hingehörte: Das war die ISS! Und auch noch scharf, allerdings direkt am Sonnenrand! Verdammt viel Glück gehabt. Es war einfach ein tolles Gefühl.
Allerdings hatte ich bei meiner Computerdurchsicht nicht bemerkt, dass mittlerweile draussen das Unwetter eingesetzt hatte, knapp eine halbe Stunde nach dem Durchgang. Es donnerte, blitzte und stürmte, blieb aber einstweilen noch trocken, und die Temperatur war um 10° gefallen! Der Hund hatte sich in die Sternwarte geflücht, und ich bemühte mich, “zu retten, was noch zu retten war”. Es ging jedoch noch einmal gut, aber wirklich haarscharf am Totalschaden vorbei. Bevor der Sturm die Hütte auseinandernehmen konnte, gelang es mir, die Dachhälften zu schließen und zu sichern. Wir erreichten auch gerade noch trocken das Haus. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen.